Die Differenz zwischen einer sehr guten zu einer grossen Mannschaft ist oft eine Prise Talent. Zum Beispiel Kevin Fiala. Kevin Fiala liefert am Montag erst einmal eine schöne «Hollywood-Geschichte»: Er wird in Los Angeles zum ersten Mal Vater, fliegt nach Prag, kommt um 13.30 Uhr an, wird von seiner Grossmutter am Flughafen abgeholt und am Abend spielt der tschechisch-schweizerische Doppelbürger ausgerechnet gegen Tschechien ein grosses Spiel.
Mit einem Tor (zum 1:0) und einem verwerteten Penalty führt er die Schweiz zum Penalty-Sieg (2:1 n.P.). Das Spiel gegen Tschechen ist der erste Tauglichkeitstest für das beste Schweizer WM-Team des 21. Jahrhunderts. Der Auftakt gegen Norwegen (5:2) war bloss ein Aufwärmen zum Justieren des Maschinenraumes. Österreich (6:5) in der zweiten Partie eine Konzentrationsübung. Partien gegen Teams wie Norwegen und Österreich (oder am Mittwoch gegen Grossbritannien) haben für die Schweiz inzwischen etwas Folkloristisches.
Wer den Halbfinal zum Ziel hat, muss Norwegen oder Österreich in der Gruppenphase bezwingen. Wie ist eigentlich einerlei. Es kann eine langweilige Pflichterfüllung sein (wie gegen Norwegen) oder ein Drama mit höchstem Unterhaltungswert (wie gegen Österreich).
Aus bitterer Erfahrung wissen die Schweizer, dass Siege gegen einen Grossen in der Vorrunde noch wenig bedeuten: Sie haben bei den letzten beiden WM-Turnieren 13 der 14 Vorrundenspiele gewonnen und doch beide Male den Viertelfinal verloren. Sozusagen ein Gottéron des internationalen Hockeys. Ein echter Test ist eigentlich nur ein Vorrundenspiel gegen einen gastgebenden Grossen.
Erst recht, wenn der Gegner Tschechien heisst und in Prag in einer ausverkauften Arena antritt. Dieses 2:1 nach Penaltys ist der grösste Vorrunden-Sieg in der Ära von Patrick Fischer, die mit der WM 2016 in Moskau begonnen hat. Auch ein Blick zurück zeigt, wie ein Sieg in Prag einzuordnen ist. Bei der WM 1972 in Prag (Modus mit einer Doppelrunde) haben die Schweizer gegen die CSSR 1:19 und 2:12 verloren. Inzwischen begegnen sich die beiden Teams auf Augenhöhe und die Spiele zählen zu den taktisch besten und intensivsten bei einer WM.
Der letzte Sieg in Prag ist mehr als 80 Jahre her: Am 9. Dezember 1938 gewinnen die Schweizer ein Länderspiel in Prag 1:0.
Der Optimismus nach dem sonntäglichen 6:5 gegen Österreich war berechtigt. Am Montag stimmt gegen Tschechien alles: Die Taktik, die Konzentration, die Disziplin, die Kraft, die Schnelligkeit, die Linienzusammenstellung und die Aufgabenverteilung: Der Zuger «Defensiv-Sturm» mit Fabrice Herzog, Sven Senteler und Dario Simion hält das 0:0 gegen die beste Angriffsformation der Tschechen. Wenn nötig, werden Hiebe mit Hieben und Provokationen mit Gelassenheit vergolten. Einschüchtern und herumschubsen lassen sich die Schweizer auch von einem rauen, mit allen Wassern gewaschenen Gegner in einer ausverkauften Arena nicht. Das neue Selbstvertrauen, das sich in der «Ära Fischer» nach und nach entwickelt hat.
Vor allem aber: So viel Talent hinten und vorne gab es im 21. Jahrhundert bei einem helvetischen WM-Team noch nie. Patrick Fischer hat nun die Zutaten zu einem WM-Team. Talent hinten: Roman Josi übernimmt gegen Tschechien eine andere Rolle als am Vorabend gegen Österreich, als er als fliegender, stürmender Verteidiger der Dynamo des Offensivspiels war und bei vier von sechs Toren den Stock im Spiel hatte. Nun ist er gegen Tschechien ganz Abwehrchef. So wie er die offenen Räume in der gegnerischen Abwehr erkennt und nutzt, so sieht er eben auch die Lücken in der eigenen Defensive und schliesst sie. Gegen die Tschechen ist er verteidigender Verteidiger. Schlau, diszipliniert, geradlinig, effizient.
Und jederzeit für ein offensives Halleluja gut. Die Aktion, die Kevin Fiala mit einem Kunstschuss im Powerplay zum 1:0 krönt (14. Min.), hat Roman Josi eingefädelt. Josi hinten, Josi vorne, Josi überall. Er ist als Verteidigungsminister Chefingenieur im Maschinenraum des Schweizer Spiels.
Talent vorne: Kevin Fiala trifft im Powerplay aus spitzem Winkel unhaltbar zum 1:0. NHL-Goalie Lukas Dostal (Anaheim) erwartet einen Querpass und lässt eine kleine Lücke offen. Kevin Fiala trifft präzis wie Wilhelm Tell mit dem Apfelschuss. So ein Tor ist nicht nur ein bisschen Hollywood. Es ist Hollywood. Auf dem grossen Videowürfel wird kurz eingeblendet, wie selbst die tschechische Legende Jaromir Jagr in seiner Loge anerkennend nickt.
Roman Josis und Kevin Fialas Talent können aus einer sehr guten eine grosse WM-Mannschaft, einen WM-Halbfinalisten machen. Nun bleiben vier weitere Vorrundenpartien (Grossbritannien, Dänemark, Kanada, Finnland), um die Taktik mit der Nagelfeile weiter zu verfeinern und herauszufinden, wer der richtige Viertelfinal-Goalie ist.
PS: Grosse Hockeyspieler sind hart im Nehmen: Nico Hischier stürzt vor dem gegnerischen Tor und wird von Ondrej Kases Schlittschuhkufe im Gesicht getroffen. Er muss in der 57. Minute zum Nähen in die Kabine und meldet sich bereits wenige Sekunden vor dem Ende der regulären Spielzeit wieder zurück zum Einsatz. Auch diese Opferbereitschaft, diese Härte gegen sich selbst gehören zum «Halbfinal-Mix».
Chronist.
Genau DARUM geht es. Dieses gestrige Spiel gilt erst als sehr gut, wenn wir die Viertelfinale überstehen.
Oder mit anderen Worten. Super Vorrunde hatten wir jetzt einige Male, das zählt halt aber alles nichts, wenn es dann nach dem Viertelfinale wieder nach Hause geht.